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Kunst, die nicht mehr stören darf, wird irrelevant

Vor einigen Wochen entstand auf Twitter eine Diskussion über das Drehbuch eines „Tatort“-Krimis. Die Handlung in Kürze: Ein junger Mann, der sich gegen Rechtsextremismus engagiert, wird umgebracht. Weil er aufgrund seines Engagements von Neonazis bedroht wurde, geraten diese zuerst ins Visier der Ermittler. Schließlich stellt sich jedoch heraus, dass der Mord von der Mutter der Freundin des Opfers begangen wurde. Ein reichweitenstarker Twitter-Account störte sich an der Tatsache, dass die Verdächtigten nicht die Täter waren. Zahlreiche Nutzer äußerten sich zustimmend, und so nahm die Entrüstung ihren Lauf.

Auf den ersten Blick handelt es sich um einen trivialen Vorfall. Doch dieser Eindruck täuscht. Dass Rechtsextremismus emotional diskutiert wird, ist nachvollziehbar. Es liegt allerdings in der Natur des Kriminalfilms, dass er eine unerwartete Auflösung hat. Die Empörung darüber, dass eine solche Auflösung einmal nicht dem eigenen Weltbild entspricht, befremdet. Abgesehen davon, dass der im Zuge der Debatte erhobene Vorwurf, eine solche Handlung verharmlose Rechtsextremismus, absurd ist: Wie kommt es zu dem Irrtum, das Drehbuch einer fiktiven Geschichte müsse mit den eigenen Anschauungen harmonieren?

Die sozialen Medien ermöglichen heute jedem, ein riesiges Publikum zu erreichen und sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Das hat viele Vorteile, zum Beispiel für Freiheitsbewegungen in totalitären Staaten. Diese Menge an Möglichkeiten der Äußerung und des Zuspruchs führt allerdings auch häufig zu Fehleinschätzungen der tatsächlichen Relevanz von Positionen oder Personen. So entstehen Ansprüche auf Beachtung und Gehör sowie auf Umsetzung individueller Ansprüche. Dies machen sich mit zunehmendem Erfolg auch Lobbygruppen aller Art zunutze.

In den USA gelten ab 2024 bei den Oscars Diversitätskriterien bezüglich Besetzung und Handlung, von denen ein Film mindestens zwei erfüllen muss, um sich überhaupt für eine Nominierung zu qualifizieren. Ein historischer Sieg identitätspolitisch erleuchteter Kreise, der die Filmindustrie nachhaltig verändern wird. Dass diese Veränderung positiv ist, darf allerdings bezweifelt werden. Es ist zu befürchten, dass der einstige Fokus auf Qualität ersetzt wird durch ein Abhaken von Kriterien.

Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences nimmt damit die Rolle einer Zertifizierungsstelle ein – eine Art Lebensmittelampel für Cineasten. Das bedeutet eine Entmündigung des Zuschauers und weniger echte Diversität. Da gesellschaftlich-kulturelle Entwicklungen aus den Vereinigten Staaten mit etwas Verzögerung oft auch in Deutschland beginnen, wundert es nicht, dass inzwischen auch deutsche Fernsehproduktionen nach dieser Logik kritisiert werden.

Wer sich gut ernähren möchte, orientiert sich an Labels und Gütesiegeln. Wer einen Rasenmäher kauft, liest vorher Testberichte. Solcherlei Zertifizierung darf allerdings nicht in die Geisteswelt Einzug halten. Kunst (und dazu gehört das Genre Film) muss Emotionen auslösen, erregen, aufwühlen, anfassen. Wenn es angesichts schwindender Toleranz gegenüber abweichenden Ansichten und Lebensstilen bei der Schaffung von Kunst in Zukunft vorrangig darum ginge, niemanden zu verstören, würde sie irrelevant.

Da unter Diversität leider nur selten Meinungs- und Ideenvielfalt verstanden wird, wäre es ein Fehler, die entsprechenden Erwartungen einzelner Gruppen zum Maßstab zu machen. Auch deshalb, weil der Anspruch, jeder Lebensbereich müsse der eigenen Perspektive angepasst werden, ein fragwürdiges Demokratieverständnis offenbart. Ambivalenz ist keine Zumutung, sondern ist auszuhalten. Bereits Schiller wusste: „Denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen.“ Eine nicht nur zutreffende, sondern auch zeitlose Aussage.

Dieser Artikel erschien am 04.03.2021 in der “Welt”.