Kategorie: Essay

  • Das Ende der Unschuldsvermutung

    Das Ende der Unschuldsvermutung

    Kürzlich sah sich der deutsche Comedian Luke Mockridge mit der öffentlichen Behauptung seitens einer Ex-Partnerin konfrontiert, er habe sich während der Beziehung ihr gegenüber körperlich übergriffig verhalten. Erwartbar wäre als Reaktion die Anregung gewesen, den Vorwürfen nachzugehen, auch wenn der gegenüber dem Sender Sat.1 geäußerte Wunsch, dieser möge mögliche Straftaten aufklären, eine völlige Unkenntnis des Rechtssystems belegt. In den sozialen Medien wurden allerdings Stimmen laut, sein Arbeitgeber solle ihn umgehend entlassen. Mit #KonsequenzenfuerLuke entstand ein eigenes Hashtag, mit dem der Sender massiv unter Druck gesetzt wurde. Das Online-Scherbengericht hatte sein Urteil gefällt.

    Der Sender reagierte mit einer Stellungnahme, in der es hieß, es gebe „aus guten Gründen“ kein Verfahren gegen den Künstler und man hielte es für eine moderne Form der Lynchjustiz, jemanden aufgrund von Gerüchten an den Pranger zu stellen. Das sei nicht mit dem eigenen Rechtsverständnis vereinbar. Diese Worte überraschten in ihrer Deutlichkeit. Im aktuellen Klima reichen oftmals bloße Behauptungen, damit eine Institution einknickt.

    Auch die „Spiegel“-Kolumnistin Margarete Stokowski beschäftigte sich in einem Beitrag unter anderem mit diesem Fall: „Wer erklärt, dass eine Frau, die von Übergriffen spricht, lügt und das Ansehen dieser Person zerstören will, wirft der Frau mindestens üble Nachrede vor – und das wäre dann auch eine Straftat, die diese Frau begehen würde.“ Dieser Satz basiert nicht nur vollständig auf Unterstellungen, sondern diskreditiert auch die Unschuldsvermutung, indem er sie nach eigenem Gusto verdreht.

    Gegen diese Kritik versuchte sich Stokowski mit der Aussage zu immunisieren, die Unschuldsvermutung sei ausschließlich ein „rechtliches Prinzip“. Damit möchte sie wohl behaupten, diese gelte nur vor Gericht. Das ist nachweislich unzutreffend. Aus dem Pressekodex, den man als Journalistin eigentlich kennen sollte, geht hervor, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung auch für die Presse verpflichtend ist. Man kann durchaus die Meinung vertreten, dass sie zusätzlich auch ein moralisches Prinzip sein sollte.

    Ein Abschnitt lädt besonders zu Kommentierung ein: „Dass sexualisierte Gewalt selten nachgewiesen werden kann, ist ein Problem. Aber die Hauptgefahr ist hierbei nicht, dass haufenweise unschuldige Männer im Knast landen. Die Hauptgefahr ist, dass das öffentliche Misstrauen gegen mutmaßliche Opfer und diejenigen, die den Schilderungen glauben, dazu führt, dass Menschen, die Gewalt erfahren haben, es nicht wagen, darüber zu sprechen, weil sie ahnen, welche Macht ihnen dann entgegenschlagen würde.“ In negativer Hinsicht bemerkenswert, wie grotesk hier die Idee der Unschuldsvermutung verzerrt wird.

    Natürlich ist es schwer, Dinge zu beweisen, die sich zwischen zwei Personen in intimer Begegnung ereignet haben. Dass in einem Rechtsstaat Vorwürfe belegt werden müssen, ist aber kein Zeichen dafür, dass Frauen, die einen sexuellen Übergriff anzeigen, nicht geglaubt wird. Natürlich ist es jedem selbst überlassen, in welcher Form er vermeintlich Erlebtes kommuniziert. Wer allerdings (wie hier geschehen), anstatt bei der Polizei Anzeige zu erstatten, in den sozialen Medien öffentlich Anschuldigungen artikuliert, tut der eigenen Glaubwürdigkeit keinen Gefallen.

    Besonders vor dem Hintergrund, dass die Unzumutbarkeit eines Besuchs bei der Polizei oft mit Scham begründet wird. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass es schwerer fällt, sich einer Polizeibeamtin zu offenbaren, als vor Millionen fremder Menschen im Internet intime Details zu diskutieren. Dass Stokowski unschuldig Kompromittierte zu Kollateralschäden erklärt, spricht zudem Bände darüber, welche Stufe der Verrohung der Diskurs inzwischen erreicht hat. Dieser Fall zeigt einmal mehr, dass die Unschuldsvermutung es verdient hat, genauer betrachtet zu werden.

    Zunächst: Es gibt mehrere Arten von Schuld. Die finanzielle beziehungsweise eigentumsrechtliche Definition aus der Finanzwelt ist hier allerdings irrelevant. Es geht um „moralische Schuld“. Diese kann durch den Verstoß gegen geltende Regeln, die sich aus Naturrecht, ethischen Postulaten und gesellschaftlichen Absprachen ableiten, auf sich geladen werden.

    Das Problem der moralischen Schuld ist, dass Moral als subjektiver Begriff von jedem Menschen anders verstanden und definiert wird. Dieses Verständnis beziehungsweise diese Definition hängt wiederum von individuellen Überzeugungen und Ansichten ab. Deshalb sind Argumente auf der Basis von Moral grundsätzlich schwierig und immer unscharf. Das ist in diesem Fall ein Dilemma.

    Natürlich muss jede Schuld nachgewiesen werden. Das ergibt sich aus dem übergeordneten Prinzip der Forderung nach Begründung. Das ist nicht nur in der Wissenschaft so, in der jede Schlussfolgerung der Erklärung ihrer Herleitung bedarf. Auch bei der Beilegung eines zwischenmenschlichen Konflikts ist die Belegpflicht für benachteiligende Behauptungen einleuchtend. Diese Nachweispflicht gilt übrigens auch für den liberalen Grundsatz, dass die Freiheit des einen dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt, welcher nur umsetzbar ist, wenn der Anspruch auf Durchsetzung gegenüber anderen Interessen belegt werden kann.

    Sie lässt sich bis ins 13. Jahrhundert auf den französischen Kardinal Jean Lemoine zurückverfolgen. Friedrich Spree griff sie 1631 mit „Im Zweifel für den Angeklagten (in dubio pro reo)“ in der „Cautio Criminalis“ auf. Cesare Beccaria machte sie 1764 schließlich zum Rechtsprinzip. In Deutschland ist sie im Grundgesetz verankert. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 heißt es: „Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist so lange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“

    In Art. 14 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen steht weiter, dass jeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte Anspruch darauf hat, „bis zu dem im gesetzlichen Verfahren erbrachten Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten“. Auch im Rahmen der Europäischen Union wird in der Grundrechtecharta garantiert: „Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“

    Wie erwähnt, wird in Diskussionen zu diesem Thema oft fälschlicherweise darauf hingewiesen, dass die Unschuldsvermutung nur im Rahmen eines Strafverfahrens Gültigkeit besitze. Nicht nur der Pressekodex, der im Rahmen der sogenannten „Verdachtsberichterstattung“ leider häufig ignoriert wird, beweist das Gegenteil. Auch Privatpersonen sind an die Unschuldsvermutung gebunden. Hier kommt es besonders auf die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptung und Meinungsäußerung an. Auch schon vor dem eingangs erwähnten Fall Mockridge finden sich sowohl national als auch international zahlreiche Beispiele für die Ignoranz gegenüber der Unschuldsvermutung.

    · Dem Moderator Jörg Kachelmann wurde von einer ehemaligen Geliebten unterstellt, er habe sie vergewaltigt. Nicht nur sprach ihn das Landgericht Mannheim 2011 frei. Das Oberlandesgericht Frankfurt verurteilte die Behauptende 2016 zu über 7000 Euro Schadenersatz, weil es als erwiesen ansah, dass sie Kachelmann „vorsätzlich, wahrheitswidrig der Vergewaltigung bezichtigte“.

    · Die Teilnehmerin an Trashfernsehformaten, Gina-Lisa Lohfink, beschuldigte zwei Männer, gegen ihren Willen mit ihr Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Im Verfahren am Amtsgericht Berlin-Tiergarten wurde der Vorwurf der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung fallen gelassen. Lohfink erhielt einen Strafbefehl in Höhe von 24.000 Euro wegen falscher Verdächtigung.

    Die Entlasteten erstatteten ihrerseits Anzeige wegen Verleumdung und Beleidigung. Daraufhin verurteilte das Amtsgericht Berlin-Tiergarten Lohfink zu einer Strafe von 20.000 Euro wegen falscher Verdächtigung. Im Revisionsverfahren wurde die Verurteilung rechtskräftig bestätigt. Besonders hervorzuheben ist, dass die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig sich öffentlich zu dem Fall äußerte und sich ohne Aktenkenntnis mit Lohfink solidarisierte.

    · Dem Sänger Michael Jackson wurde von mehreren Seiten vorgeworfen, sich Kindern und Jugendlichen unsittlich genähert zu haben. Trotz zweier Verfahren (1993 und 2005) konnte ihm keine Schuld nachgewiesen werden. Beschuldiger verwickelten sich dagegen in Widersprüche, und im Nachhinein äußerte eines der vermeintlichen Opfer, von seinen Eltern aus Habgier zu dieser Behauptung gedrängt worden zu sein.

    · Regisseur Woody Allen wird bis heute von seiner Ex-Frau Mia Farrow beschuldigt, eine ihrer Adoptivtöchter sexuell missbraucht zu haben. Mehrere voneinander unabhängige Gutachten kamen zu dem Schluss, dass die vermeintliche Vergewaltigung nicht stattgefunden hat. Anklage wurde nie erhoben. Der Adoptivsohn Moses Farrow wandte sich später an die Öffentlichkeit und stellte klar, dass diese Vorwürfe das Resultat einer von Mia Farrow initiierten Kampagne seien. 2020 versuchten Autoren des Rowohlt Verlags mit einem offenen Brief, die dortige Veröffentlichung der Memoiren Allens zu verhindern. Eine Mitunterzeichnerin des Briefs: Margarete Stokowski.

    Natürlich gibt es unbelegte Anschuldigungen auch in zahlreichen anderen Bereichen. Die unwahre Behauptung der Zahlungsunfähigkeit oder derSteuerhinterziehung seien hier genannt. Der Vorwurf sexuell unangemessenen Verhaltens hat allerdings die weitreichendsten Folgen, weshalb der Fokus darauf liegt. Bereits die Behauptung, jemand habe sich eines solchen Fehlverhaltens schuldig gemacht, ist für die beschuldigte Person verheerend.

    In allen beschriebenen Fällen fand sowohl in der Presse als auch in der Bevölkerung eine Vorverurteilung statt. Die Schuld der Genannten stand trotzdem für viele unhinterfragt fest. Freisprüche gelten in diesem Zusammenhang als Freisprüche zweiter Klasse. Natürlich ist es ein Unterschied, ob jemand aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde oder ob seine Unschuld bewiesen wurde. Rechtlich gibt es diesen Unterschied allerdings nicht.

    Wer für die Unschuldsvermutung eintritt, dem wird schnell unterstellt, das Opfer der Lüge zu bezichtigen. Dabei wird übersehen, dass erst ein Gericht prüft, ob es überhaupt ein Opfer gibt. Über einen Anfangsverdacht entscheidet die Staatsanwaltschaft, über Schuld oder Unschuld ein Gericht. Die Mehrheit der Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe trifft zu. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass die Vorwürfe der Wahrheit entsprechen, rechtfertigt allerdings nicht die Zerstörung von Existenzen ohne rechtsstaatliches Verfahren.

    Die entschiedene Ablehnung als Reaktion auf Übergriffigkeiten ist indes ein neueres Phänomen. In der Operette „Paganini“ von Franz Lehár aus dem Jahr 1925 findet sich die Textstelle: „Gern hab ich die Frau’n geküsst, hab nie gefragt, ob es gestattet ist; dachte mir: nimm sie dir, küss sie nur, dazu sind sie ja hier!“ Die Zeiten, in denen so gedacht wurde, sind in der westlichen Welt glücklicherweise vorbei, und wer das anders sieht, dem hilft das Rechtssystem auf die Sprünge.

    Rechtsstaatliche Standards werden von vielen allerdings nur akzeptiert, solange sie nicht mit den eigenen Ansichten kollidieren. Diese Ansichten enthalten häufig die auf einem Irrtum basierende Erzählung, dass Angehörige bestimmter Gruppen pauschal Opfer und Angehörige anderer Gruppen pauschal Täter seien. Dabei ist unerheblich, ob es sich um Geschlechterfragen, Rassismus oder andere Themen handelt: Einem friedlichen Miteinander ist dieses Narrativ nicht zuträglich.

    Die Unschuldsvermutung sollte deshalb nicht nur als zentrales Element des Rechtsstaats, sondern als wichtiger Teil der Verbesserung des Umgangs miteinander auch in allen anderen Lebensbereichen gelten. Es verwundert, dass in einer Zeit, in der sich parteiübergreifend auch in politischen Programmen immer häufiger Forderungen nach „Achtsamkeit“ und „Respekt“ finden, dieses so wichtige Werkzeug zur Erfüllung des Wunsches nach einem konstruktiv-bejahenden Miteinander gering geschätzt wird.

    In einer unübersichtlicher werdenden Welt suchen Menschen nach Orientierung, und die Zuweisung von Schuld hat diese in der Geschichte immer gegeben. Nachrichten, die sich auf Aktivitäten unterhalb der Gürtellinie beziehen, verbreiten sich besonders schnell. Die Beschleunigung der Kommunikation in den sozialen Medien mit massenhafter anonymer Kommentierung und die dortige Aufmerksamkeitsökonomie machen es so immer schwerer, ein Bewusstsein für die Bedeutung der Unschuldsvermutung zu erhalten.

    Dieser Artikel erschien am 06.05.2021 in der „Welt“.

  • Schon von „BPoC“ gehört?

    Schon von „BPoC“ gehört?

    In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass Entwicklungen und Debatten, die in den sozialen Medien entstehen, ihren Weg in die Gesellschaft finden. Es wurde ebenso offenbar, dass bisher vor allem Populisten, Radikale und Extremisten diese Plattform für sich zu nutzen verstehen. Ihr Erfolg ist auch dadurch zu erklären, dass moderate Diskutanten vom destruktiven Diskussionsstil abgestoßen sind und sich zurückziehen. So bleibt vieles nicht nur unwidersprochen, sondern auch unbemerkt. In letzter Zeit liest man häufiger, nun sei es langsam genug mit der Berichterstattung über Identitätspolitik. Dabei wird verkannt, dass diese Debatte gerade erst beginnt.

    In den letzten Jahren konnte sich in Teilen der öffentlich-rechtlichen Medien, der Universitäten und der Nichtregierungsorganisationen eine intellektuelle Subkultur etablieren, die die Errungenschaften der Aufklärung und auch gesellschaftliche Übereinkünfte durch Gruppendenken zu ersetzen versucht. Das Grundgesetz sowie staatsbürgerliche Rechte und Pflichten, die für jeden gelten, werden immer häufiger infrage gestellt. Forderungen nach einer besonderen Behandlung auf Basis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe werden mit wachsender Aggressivität gestellt.

    Weitgehend ohne Wissen der Öffentlichkeit wurden intransparente Strukturen geschaffen, die nicht selten staatlich finanziert sind und die dort erdachten Konzepte in die Gesellschaft tragen. Das ist keine Verschwörungstheorie. Es seien hier nur genannt die Sprachregelung zum Gendern und die Verbreitung fragwürdiger Narrative in durch den Rundfunkbeitrag finanzierten Redaktionen oder das System der Steuerung von Forschungsgeldern.

    Inzwischen wird vermehrt kritisch nachgefragt, was da eigentlich mit welcher Rechtfertigung steuer- und abgabenfinanziert in den Köpfen der Menschen verankert werden soll. Deshalb liegt es in der Natur der Sache, dass der Versuch der Delegitimierung von Kritik hauptsächlich von denen unternommen wird, die von diesen Strukturen profitieren und langsam ihre Felle davonschwimmen sehen. Es geht um Deutungshoheit und daraus resultierend um Macht und Geld.

    Ein Werkzeug, dessen sich die Akteure dieses Milieus bedienen, ist die Akademisierung von Sprache. Durch das Einführen neuer Begriffe und Bezeichnungen, die nicht selten auf wackeligen Theorien beruhen, werden nicht nur weniger Begünstigte und nicht universitär Gebildete vom Diskurs ferngehalten. Das passt so gar nicht zum Anspruch der Inklusion und dem oft erhobenen Vorwurf des „Klassismus“, also einer Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft.

    So manch hochintelligenter Akademiker kann da nicht mehr folgen. Die Tatsache, dass aufgrund der Entstehung des Themas in den USA auch hierzulande überwiegend englische Wörter verwendet werden, steigert die Verwirrung. Als Beispiel eignet sich die Bezeichnung für Personen mit dunkler Hautfarbe. Die Ablehnung von Rassismus ist unter Demokraten zwar Konsens, bezüglich der Wortwahl gibt es allerdings Dissens.

    Beim Begriff „Neger“, welcher durch seine Wortgeschichte als rassistisch empfunden wird, gebieten Respekt und Höflichkeit, es nicht zu verwenden. Das später eingeführte Wort „Schwarze“ ist nicht perfekt, erfüllt aber seinen Zweck. Vor einigen Jahren kam der Begriff „PoC“ auf. Er steht für „Person of Color“. Bereits kurze Zeit später wurde er modifiziert. Als „PoC“ gelten nun nicht mehr Schwarze, sondern alle nicht hellhäutigen Menschen. Die Bezeichnung für Schwarze ist seitdem „BPoC“, also „Black Person of Color“. Sind Sie noch dabei?

    Die Abwesenheit deutscher Formulierungen kritisieren inzwischen auch Befürworter der Verwendung dieser Wortsträuße. Ein für mehrere öffentlich-rechtliche Formate tätiger Journalist schlug Anfang März auf Twitter als Alternative „SOJARME-Person“ vor. Das stünde für „schwarze, osteuropäische, jüdische, asiatische, Roma-Sinti-, und/oder muslimische Person“. Man müsse mit diesem Begriff „nicht gleich of Color“ sein oder „nicht-weiß“ oder nicht-hellhäutig, um mit angesprochen zu werden. „Europäischstämmige Menschen, die abgewertet werden, würden ebenfalls mitgenommen.“

    Endlich ein Wort, das alle einschließt, möchte man meinen, auch wenn das Ganze eventuell erst nach dem ausgiebigen Genuss geistiger Getränke Sinn ergibt. Nein, das reichte nicht. Kritisiert wurde, dass dieser Begriff „indigene Menschen aus Ozeanien oder Amerika und anderen Regionen“ ausschließe und es deshalb „SOJARIME-Person“ heißen müsse.

    Für Monty-Python-Liebhaber sind solche nicht mehr von Satire zu unterscheidenden Vorschläge und die entsprechenden Reaktionen darauf natürlich ein großes Vergnügen. Sie zeigen leider ebenfalls, wie weit diese Herangehensweise von einem humanistischen Ansatz entfernt ist, weil hier die Vollständigkeit der Aufzählung auch zu einem Kriterium für Wertigkeit gemacht wird.

    Die elitäre Sprache verschleiert zudem, dass die Argumentation oft weder konsistent ist, noch auf Fakten basiert. Die Abwesenheit eines tiefer gehenden Verständnisses für politische und gesellschaftliche Zusammenhänge lässt sich so ebenfalls verbergen. Eine nützliche Schutzmauer gegen Kritik. Wer die Mehrheit der Bevölkerung erreichen möchte, sollte sich so ausdrücken, dass die Mehrheit ihn versteht. Wer ein Thema intellektuell durchdrungen hat, ist in der Lage, es allgemein verständlich zu erklären.

    Eine immer speziellere Ausdrucksweise und das Bündeln von Menschengruppen sind keine Innovationen in der Rassismus-Debatte, sondern ein Rückschritt, der zusätzliche Verklemmungen im Umgang mit Minderheiten schafft. So kann sogar ein potenziell interessantes Gespräch mit dem Taxifahrer zum Minenfeld werden. Wer befürchten muss, dass ihn bereits die Frage nach der Herkunft oder eine falsche Ausdrucksweise zum Unmenschen macht, schweigt lieber. Das ist für die Erreichung des Ziels eines friedlichen Miteinanders unterschiedlicher Kulturen in einer freien Gesellschaft kontraproduktiv.

    ie Behauptung der Aktivisten, dass es ihnen um ein Miteinander ginge, muss in Anbetracht eines unversöhnlichen Diskussionsgebarens und dem Unwillen, andere Argumente wohlwollend zu interpretieren, ohnehin in Zweifel gezogen werden. Wer wirtschaftlich davon abhängig ist, bestimmte Positionen zu vertreten, wird diese außerdem nicht öffentlich relativieren.

    Der Selbsterhaltungstrieb verleitet, unabhängig von den tatsächlichen Gegebenheiten, zu einer fortdauernden Behauptung unverändert drängender Probleme. Das Eingestehen eines Fortschritts ist in diesem System genauso von vornherein ausgeschlossen wie das Vermelden einer Zielerreichung.

    Dieser Artikel erschien am 30.03.2021 in der „Welt“.